Ein gehörloses Kind lernt nicht zu sprechen und entwickelt meist nur mindere Intelligenz. Dieser Zustand wurde seit dem 18. Jahrhundert mit dem heute politisch inkorrekten Begriff „Taubstummheit” belegt. Um das Los dieser Kinder zu verbessern, wurden im Königreich Bayern zwei Taubstummen-Schulen eingerichtet (München und Nürnberg). Die Kinder lebten dort im Internat und wurden auf die Berufe vorbereitet, die man ihnen zutraute.
Die Notwendigkeit und der Erfolg dieser Bemühungen musste dem Kostenträger nachgewiesen werden. Zur „objektiven” Vermessung von Schwerhörigkeit (Audiometrie) stützte man sich auf die brandaktuelle Theorie des Berliner Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz (1821–1894), der 1863 in seiner „Lehre von den Tonempfindungen” die Grundlagen der Wahrnehmungsphysiologie gelegt hatte. Demnach funktioniere das Innenohr wie eine Kette von Resonatoren. Die damaligen Ärzte kannten solche Resonatoren aus der Musik: als Stimmgabel, als Pfeife, als Hohlraum oder als Saite.
Für die Hörprüfung setzten sich Stimmgabeln durch, die mit einem kleinen Hämmerchen angeschlagen werden: Sie erzeugen unabhängig von der Anschlagstärke immer ihre Eigenfrequenz, die ihnen eigene Tonhöhe, die man nach musikalischer Terminologie mit „c1” oder „c” (eingestrichenes c) bis „c6” belegte. Teilweise werden diese Begriffe bis heute verwendet, etwa bei der Bezeichnung einer „c5-Senke” bei einem akuten Lärmtrauma.
Auch der Stimmgabelsatz des Deutschen Medizinhistorischen Museums stammt aus einer solchen Taubstummenschule: Der Erlanger Extraordinarius Wilhelm Kiesselbach (1839–1902) war seit 1883 erster Direktor der Universitäts-HNO-Klinik und als solcher für die Betreuung der 1832 eröffneten Nürnberger Einrichtung zuständig (heute: Zentrum für Hörgeschädigte). Er erhielt dort ein separates Untersuchungszimmer und ein eigenes Budget, das den Ankauf von hochwertigen Instrumenten erlaubte – darunter ein Satz von Präzisions-Stimmgabeln, die einen kaum benötigten Umfang von 8 Oktaven abdeckten (von Kontra-C bis c6) und neben einer langen Obertonreihe auch noch eine besondere Resonator-Güte aufwiesen. Der Stimmgabelsatz wurde in einem mit Samt ausgeschlagenen, stabilen Eichenholzkasten transportiert, um ihn vor Beschädigungen zu schützen. Dass der Koffergriff später ausgebessert werden musste, lässt auf eine höhere mechanische Beanspruchung schließen.
Die Audiometrie mit Stimmgabeln blieb bis 1914 in Gebrauch und hat durchaus auch heute noch ihren Wert. In den 1920er Jahren löste die elektronische Tonerzeugung die Stimmgabeln ab. Die Handhabung wurde einfacher und konnte geringer bezahlten Hilfskräften übertragen werden. Auch in der Taubstummenschule Nürnberg wurde der schwere Koffer mit dem Stimmgabelsatz ausgemustert, auf dem Dachboden abgestellt und dort vergessen.
Am 2. Januar 1945 erlebte er dort den Luftangriff auf Nürnberg. Ein Bombensplitter durchschlug den Deckel des Holzkoffers und hinterließ seine Spur an einer Stimmgabel, ein anderer steckt bis heute im Kofferdeckel. Über den Landesarzt für Hör- und Sprachgeschädigte, einen mittelbahren Nachfolger Kiesselbachs, kam der eindrucksvolle Instrumentensatz in das Deutsche Medizinhistorische Museum nach Ingolstadt.
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Ulrich Eysholdt
Universitätsklinikum Erlangen
Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie
Bohlenplatz 21
091054 Erlangen