Elfenbein, venezianisches Glas und fein geschnitztes Obstbaumholz – es sind edle Materialen, die in dieser kostbaren Figur kombiniert wurden. Man bezeichnet diese Spielart der barocken Elfenbeinplastik deshalb auch als „Kombinationsfigur” Diese Machart ermöglichte einen besonders materialsparenden Einsatz des wertvollen Elfenbeins, das nur für die unbedeckten Körperteile zur Verwendung kam. Besonders beliebt waren dabei Motive, die einen häufigen Wechsel zwischen Holz und Elfenbein erlaubten – etwa halbbekleidete Gestalten der antiken Mythologie oder zeitgenössische Bettlerfiguren, durch deren zerrissene Gewände immer wieder das helle Elfenbein durchblickte. Der Kontrast zwischen dem teuren Material und den armen, zerlumpten Männern und Frauen wurde von den Kunstfreunden des Barock wohl als zusätzlicher Reiz empfunden.
Auch die knapp 28 cm hohe Kombinationsfigur aus der Sammlung des Deutschen Medizinhistorischen Museums zeigt eine arme Frau. Der Künstler – vieles spricht dafür, dass es sich dabei um Matthias Kolb aus Augsburg handelte – wählte eine Pose, die ihm einen sehr reduzierten und doch wirkungsvollen Einsatz des Elfenbeins erlaubte: Die Frau stillt einen Säugling, der im Tragetuch ruht. So ließen sich neben Händen, Füßen und Kopf der Frau auch ihre linke Brust und das Gesicht des Säuglings in Elfenbein nachbilden. Um den Kontrast der Materialien zu steigern, wurde das Obstbaumholz dunkel eingefärbt. Typisch für Kolb ist die mützenförmig gestaltete Kopfbedeckung der Frau. Ein anderer, bekannter Vertreter dieser Technik, der 1683 geborene Simon Troger, versah seine Kombinationsfiguren dagegen mit geschnitzten Bauernhüten. Ganz ohne Kopfbedeckung ging es bei beiden nicht, denn sie mussten damit die Aushöhlung im Elfenbeinkopf verbergen, durch die sie die zierlichen, aus venezianischem Glas angefertigten Augen von innen hinter die Augenlider gesetzt hatten. Durch diese fein gearbeiteten Glasaugen erhält die Figur ihren intensiven, lebendigen Blick.
Auf den modernen Betrachter wirkt die Verbindung der edlen Werkstoffe mit dem Bild des Elends befremdlich, wenn nicht geradezu zynisch. In der Dauerausstellung des Deutschen Medizinhistorischen Museums steht die „Stillende Bettlerin” in einer eigens für sie angefertigten Vitrine in direkter Nachbarschaft zu Gebärstühlen und Geburtszangen. Sie soll die Gäste des Museums daran erinnern, dass es sich bei Schwangerschaft und Geburt zwar um biologische Phänomene handelt, dass deren konkrete Ausgestaltung aber vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext abhängt. So war es, um nur ein Beispiel zu nennen, in unseren Breiten ein fundamentaler Unterschied für das Schicksal der Betreffenden und ihres Kindes, ob eine Frau (wenn verheiratet) „gesegneten Leibes” war oder (wenn unverheiratet) „die Frucht der Sünde in sich trug”. In letzterem Fall konnte die Schwangerschaft den Verlust des Arbeitsplatzes nach sich ziehen, mit allen existentiellen Folgen für die Frau und ihr Kind – bis hin zur Kindstötung oder zum Selbstmord.
In der kommenden Adventszeit wird die „Stillende Schwangere” in der kleinen Sonderausstellung „Rund ums Stillen” zu sehen sein, mit der sich das Museum am Ingolstädter Krippenweg beteiligt. Sie wird dort mit einer anderen, wirkmächtigen Darstellungstradition der stillenden Frau kontrastiert: der „Maria lactans”, der milchnährenden Muttergottes.
Eugen von Philippovich: Elfenbein. München 1982, S. 228f.
Marion Maria Ruisinger (Hg.): Mit Sinn und Verstand. Eine Ausstellung für Christa Habrich. Ingolstadt 2011 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt 35), S. 113
Prof. Dr. Marion Ruisinger