Medizinball

„Holt die Medizinbälle!” Wer kennt ihn nicht, diesen Befehl aus der Turnstunde. Da steigen Erinnerungen auf an speckige, abgegriffene Lederbälle, an miefige Turnhallen und an Übungen, deren Sinnhaftigkeit sich den meisten entzog, die häufig genug aber sichtbare Spuren in Form von blauen Flecken hinterließen. Angesichts dieser leidvollen Erfahrungen mit der schweren Lederkugel musste es geradezu als Hohn erscheinen, dass sie ausgerechnet „Medizinball” genannt wurde.

Die Turnstunden unserer Kindheit sind schon längst Vergangenheit. Im Rückblick weicht die Empörung der Neugier: Warum heißt dieser schwere Vollball eigentlich „Medizinball”? Wer hat ihn erfunden? Was macht den Ball so schwer? Und warum gibt es in Deutschland keinen Geräteraum ohne Medizinbälle? Eine von Marion Ruisinger und Karin Stukenbrock kuratierte Mini-Ausstellung im Deutschen Medizinhistorischen Museum gibt derzeit Antworten auf diese und andere Fragen.

Der „medicine ball” war in den 1870er Jahren von dem Amerikaner William Muldoon erfunden worden. Der Weltklasse-Ringer verwendete den schweren Ball im Boxtraining. Dabei schleuderte er ihn auf sein Gegenüber, um dessen Muskelkraft, Reaktionsschnelligkeit und Beweglichkeit zu trainieren. 30 Jahre später eröffnete Muldoon das Gesundheits-Institut „The Olympia” in Purchase (Staat New York), das von vielen Prominenten aufgesucht wurde. Hier bekam die für das Boxtraining entwickelte Medizinball-Bombardierung einen festen Platz im frühmorgendlichen Übungsprogramm der Sanatoriumsgäste. Das von der Öffentlichkeit mit regem Interesse verfolgte Sanatoriumsprojekt dürfte wesentlich zur Popularität des Medizinballs in den Vereinigten Staaten beigetragen haben.

Nach dem Ersten Weltkrieg machte der Medizinball auch in Deutschland Karriere. Seine Vorkämpfer waren Carl Diem, Prorektor der 1920 gegründeten Hochschule für Leibesübungen in Berlin, und Hans Surén, seit 1919 Leiter der Heeresschule für Leibesübungen in Wünsdorf (Brandenburg) und Erfinder der nach ihm benannten „Surén-Gymnastik”, einer Nacktgymnastik mit und ohne Gerät. Nicht zuletzt durch den Einfluss dieser beiden Sportschulen wurde der Medizinball bald bekannt und, glaubt man den zeitgenössischen Schriften, auch äußerst beliebt. Er wurde sogar als „Gesundheits- und Freudespender” gepriesen: Man konnte ihn überall einsetzen, die Übungen waren effektiv und machten Spaß. Der Ball konnte im Turn- und Sportverein, in der Schule, am Strand, beim Wandern, im Winter- und Hallentraining und sogar zuhause benutzt werden. Er war zwar nicht ganz billig, doch diese Ausgabe, so beteuerten die Sportheftchen, sei gut angelegt.

Der Medizinball profitierte von der politischen Lage nach dem Ersten Weltkrieg. Um die „Wiedererstarkung” Deutschlands voranzutreiben, sollten Leibesübungen für beide Geschlechter zur Pflicht werden, wenn auch mit unterschiedlicher Zielsetzung. Das zentrale Anliegen der männlichen Körperdisziplinierung bestand mit der Ausrichtung auf Kraft, Abhärtung und Leistungssteigerung in der Wiederherstellung der Wehrfähigkeit und Militärtauglichkeit. Bei den Frauen dagegen ging es um die Verbesserung und den Erhalt der Gebärfähigkeit. Frauen sollten ihre Körper stählen, um sie für Schwangerschaft und Geburt zu ertüchtigen.

Nun bleibt noch die Frage nach dem Innenleben des Medizinballs zu klären: Die Ballhülle wurde im achtteiligen Zitronenschnitt aus Rindsleder zugeschnitten und von Hand zwiegenäht. Eine Naht ließ man offen. Durch sie wurde der Ball anschließend gewendet. Und nun ging es ans Füllen: Ein Stopfer presste mit einem langen, vorne in einer stumpfen Metallspitze zulaufenden Pressholz Rentierhaare in den Ball. Für einen 3 Kilo schweren Männerball benötigte er fast drei Stunden, um den Ball prall und fest zu stopfen. Entsprechend hoch war der Anschaffungspreis. Und damit das gute Stück nicht aus der Form geriet, galt die Regel: Sitzen verboten!

 

Literatur:

Marion Maria Ruisinger, Karin Stukenbrock: Der Medizinball. Grenzgänger zwischen Sport, Medizin und Politik. Ingolstadt 2013 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt 38)


Autorin:

Prof. Dr. Marion Ruisinger

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