Im Jahr 1710 gründete August der Starke die „Königlich-Polnische und Kurfürstlich-Sächsische Porzellan-Manufaktur” in Meißen. Rund 120 Jahre später entwarf man dort die Porzellantasse, die Gegenstand unserer Betrachtungen sein soll. In diesen 120 Jahren hatte sich die Welt gewandelt: Die absolutistische Herrschaftsordnung war durch die französische Revolution ins Wanken geraten, unter Napoleon haben sich Grenzziehungen und Gesetzgebungen verändert, und die Aufklärung hat das ihrige dazugetan, um neue Wege des Denkens und Handelns zu erschließen.
Auch die Medizin war auf der Suche nach neuen Wegen. Zu groß war die Diskrepanz zwischen den althergebrachten Therapiemethoden, die noch immer das ärztliche Handeln bestimmten, und der Fülle des neuen Wissens im Bereich der medizinischen Grundlagenforschung. Man suchte nach innovativen Konzepten, die in der Lage waren, die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken und das neue Wissen für die Behandlung der Kranken nutzbar zu machen. Damals entstanden der Mesmerismus, der Brownianismus und andere, heute größtenteils in Vergessenheit geratene Versuche, neue therapeutische Konzepte zu entwickeln. Und es entstand ein radikal innovatives, rationales System der Heilkunde, das sich im Gegensatz zu den eben genannten Vorschlägen bis heute halten konnte: die Homöopathie.
Der Erfinder der Homöopathie war Samuel Hahnemann (1755–1843). Er stammte aus Meißen, wo sein Vater als Porzellanmaler an der bekannten Manufaktur beschäftigt war. Um 1830 gestaltete man dort eine Porzellantasse mit breitem Goldrand, die im ovalen Rahmen das Porträt Hahnemanns zeigt. Der Anlass für diese Motivwahl dürfte das 50-jährige Doktorjubiläum Hahnemanns im Jahr 1829 gewesen sein, an dem auch der heute noch existierende „Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte” gegründet wurde. Um weniger Kundige über die Identität des Dargestellten nicht im Unklaren zu lassen, trägt die Tasse auf dem Boden neben der unterglasurblauen Schwertermarke den Schriftzug „Dr. Hahnemann”. Die Tasse zeigt keine Gebrauchsspuren, vermutlich wurde sie nie zum Trinken verwendet, sondern als Sammlerstück aufbewahrt. Damit reiht sie sich ein in die Fülle der Büsten, Medaillen und Kupferstiche mit dem Konterfei Samuel Hahnemanns, die bereits zu seinen Lebzeiten entstanden und zum Teil auch heute noch vertrieben werden.
Der Porzellanmaler, der die Tasse entwarf, porträtierte den damals in Köthen lebenden Vater der Homöopathie vermutlich nicht persönlich, sondern orientierte sich an einem der zahlreichen Porträtstiche Hahnemanns. Viele dieser Darstellungen erinnern an Bildnisse des Arztes Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493/94–1541). Das ist kein Zufall: Was Hahnemann und Paracelsus verband, war ihr kämpferisches Eintreten für die Erneuerung der Medizin. Beide Ärzte beseelte ein reformatorischer Geist, und beide übten auf ihre Standesgenossen durch die wortgewaltige Verteidigung ihrer neuen Lehren eine ausgesprochen polarisierende Wirkung aus. Diese Parallelen in der Persönlichkeit der beiden medizinischen Erneuerer, vielleicht auch eine gewisse Ähnlichkeit ihrer Physiognomie, mochten Johann Wolfgang von Goethe 1819 dazu bewogen haben, Hahnemann als „neuen Theophrastus Paracelsus” zu bezeichnen.
Marion Ruisinger (Hrsg.): Homöopathie. 200 Jahre Organon. Ingolstadt 2010 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt 34).
Prof. Dr. Marion Ruisinger