Die Etrusker weihten seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. einzelne Köpfe als Stellvertreter des Stifters in die Heiligtümer ihrer Götter. Ab dem ausgehenden 4. Jahrhundert v. Chr., dem Zeitalter des Hellenismus, konnte dies durch alle erdenklichen Körperteile geschehen: Köpfe, Extremitäten (Arme, Hände, Beine und Füße), Sinnesorgane (zumeist Augen und Ohren), Geschlechtsorgane (Penis, Vulva, Brust), ja selbst Eingeweide wurden den Göttern geweiht.
Die Terrakotta-Votive wurden in der Regel aus der Form gewonnen und als billige Massenprodukte auf Vorrat angefertigt. Es gibt aber auch aufwändig von Hand gestaltete Stücke, die aus der Masse herausragen. Von großer Seltenheit sind Figuren wie der in Ingolstadt aufbewahrte, in Lebensgröße ausgeführte und ausgesprochen gut erhaltene Torso eines unbekleideten Mannes, der mittels eines Fensters Einblick in die Leibeshöhle gewährt. Dafür sind weltweit nur etwa 40 (meist stark fragmentierte) Beispiele bekannt.
An die etruskischen Votive knüpfen sich viele offene Fragen. Die Weihgaben werden meist in „Votivdepots“ geborgen. Das sind Gruben, in denen die aus dem Heiligtum abgeräumten Geschenke abgelegt wurden, um Platz für neue Votive zu schaffen. Solche Depots können bis zu 8000 Objekte umfassen. Sie wurden bislang bei 300 etrusko-italischen Heiligtümern gefunden. Bei ihrer Interpretation bleiben wir auf die Aussagen angewiesen, die die Stücke selbst liefern. Keine einzige antike Textquelle gibt Auskunft über das damit verbundene Ritual oder die dahinter stehenden Vorstellungen. Auch Inschriften auf den Weihgaben selbst sind extrem selten und nennen kaum mehr als den Namen der verehrten Gottheit. Immerhin wird daraus klar, dass nahezu alle antiken Götter in Mittelitalien so verehrt werden konnten und nicht nur vereinzelte, besonders für den Heilkult zuständige Gottheiten wie Asklepios (lat. Aesculapius).
Meist wird angenommen, dass diese Votive stellvertretend für den Stifter standen. Dies kann – etwa bei den Köpfen – übertragen als pars pro toto verstanden werden und die gesamte Person des Stifters umschließen. Möglich ist aber auch, dass auf die Aufgaben einzelner Körperglieder Bezug genommen wurde: Augenvotive bei schwindender Sehkraft, Ohren bei mangelndem Hörvermögen etc. Aber auch eine stärker übertragene Deutung ist denkbar: Hände können etwa als Bitte um den Erhalt der Arbeitskraft verstanden werden, sie können aber auch im Gestus des Gebets die Verehrung der Gottheit im Heiligtum fortsetzen und so den Stifter bis in alle Ewigkeit im Antlitz der Gottheit vertreten.
Der Ingolstädter Torso ist ein besonders beeindruckender Vertreter dieser Gruppe. Gestalt und Position der dargestellten inneren Organe des Brust- und Bauchraumes sind zwar stark vereinfacht, aber weitgehend korrekt wiedergegeben. Die Leber ist mit der Rückseite nach vorne dargestellt, um auch die Gallenblase zeigen zu können. Sensationell und bislang völlig einmalig ist die Wiedergabe von kleinen Einstichen auf dem leicht hochgewölbtem Rand der Bauchdecke: Jeweils neun Einstiche, gegenständig auf beiden Seiten ausgeführt, sind wohl als Andeutung einer Naht zu interpretieren. Darstellungen der inneren Organe werden meistens als Hinweis auf unbestimmbare, innere Leiden verstanden. Mit der Angabe der Naht bekommt der Ingolstädter Torso ein hohes Maß an Realität. Dennoch ist die Darstellung sicher nicht wörtlich zu verstehen. Eine Operation dieses Umfangs, bei der der Patient von der Halsgrube bis zum Schambein geöffnet wurde, war bei aller medizinischen Kenntnis auch in der Antike nicht zu überleben.
Matthias Recke, Waltrud Wamser-Krasznai: Kultische Anatomie. Etruskische Körperteil-Votive aus der Antikensammlung der Justus-Liebig-Universität Gießen (Stiftung Ludwig Stieda). Ingolstadt 2008 (Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums 31)
Matthias Recke: „Science as Art: Etruscan Anatomical votives“, in: J. MacIntosh Turfa (Hrsg.), The Etruscan World. London 2012.
Prof. Dr. Marion Ruisinger