Der „Ingolstädter Vesal”

Zur Sammlung des Deutschen Medizinhistorischen Museums gehören auch medizinische Bücher. Diese Werke haben eine doppelte Bedeutung für die Museumsarbeit: Als Textquellengeben sie Aufschluss über die theoretischen Systeme und die therapeutischen Konzepte früherer Ärztegenerationen, und als historische Objekte veranschaulichen sie die lange Zeitspanne, die seitdem verstrichen ist. Ein Buch kann aber auch als Ergebnis eines komplexen Herstellungsprozesses verstanden werden, der von der Papiermühle über die Gelehrtenstube und die Druckerei bis zum Buchbinder reichte. Ein interessanter Sonderfall sind illustrierte Anatomiebücher, für die Anatom und Künstler gemeinsam an den Seziertisch treten mussten. Angesichts des notorischen Leichenmangels der frühneuzeitlichen Anatomie war dies nicht immer einfach zu verwirklichen. Häufig kopierten die Kupferstecher daher Abbildungen aus den Werken anderer Autoren – dieses „Abkupfern” war früher gängige Praxis.

Das Anatomiebuch, das wohl am häufigsten als Vorlage herhalten musste, war die 1543 in Basel erschienene „Fabrica” des in Padua wirkenden Flamen Andreas Vesal (1514–1564). Das großformatige Werk gilt heute durch die Qualität seiner Holzschnitte als ein Meilenstein der anatomischen Buchkunst. Wer die meisterhaften Illustrationen angefertigt hatte, war lange ein Rätsel. Vesal selbst verschwieg den Namen des Künstlers. Heute gilt es als erwiesen, dass die Abbildungen von dem Niederländer Jan Stephan van Calcar stammen (1500–1546), einem Schüler Tizians. Die Holzschnittplatten waren für die Drucklegung von Venedig nach Basel transportiert worden. Über ihr Schicksal in den folgenden 150 Jahren ist nichts bekannt. 1706 befanden sie sich im Besitz des Augsburger Buchdruckers Andreas Maschenbaur, der 14 ausgewählteTafeln mit einem deutschen Text versah und für die Zwecke der „Mahlerey und Bildhauer-Kunst” abdruckte. 1723 erschien eine zweite Auflage des Werks, dann wurde es zunächst wieder ruhig um die Vesal'schen Druckplatten, bis sie rund 50 Jahre später der bayerische Leibarzt Johann Anton von Wolter (1709–1787) erwarb. Er wollte die anatomischen Abbildungen mit einem deutschen Text versehen lassen, um „besonders den bairischen Wundärzten ein brauchbares anatomisches Handbuch zu liefern, welches, mit so köstlichen Figuren bereichert, selbigen in vielen Fällen einsicherer Leitfaden seyn sollte”.

Mit der Umsetzung dieses Plans wurde Heinrich Palmaz Leveling (1742–1798) beauftragt, der an der Bayerischen Landesuniversität in Ingolstadt die Professur für Anatomie bekleidete. Leveling stellte sich der heiklen Aufgabe, die über 200 Jahre alten anatomischen Abbildungen mit einem deutschen Text zu versehen, der den aktuellen Stand des anatomischen Wissens wiedergeben sollte. Er stützte sich dabei auf die 1754 in deutscher Sprache erschienene „Abhandlung von dem Bau und der Zergliederungdes menschlichen Leibes” des in Paris wirkenden Anatomen Jacob Winslow (1669-1760), der sich darin ebenfalls an Vesal orientiert hatte.

Die größte Herausforderung bestand für Leveling wohl darin, ausschließlich landessprachliche Begriffe zu verwenden. Deshalb ließ er das Anatomiebuch mit einem „Verzeichniß der gemeinsten, in diesem Werke vorkommenden Kunstwörtern” beginnen, indem er jeden anatomischen Fachterminus ins Deutsche übertrug. Darunter finden sich bizarr anmutende Begriffe wie „Beinkörper” (Skelett), „Gekrösdrüse” (Pankreas) oder „Fließwassergefäße” (Vasa lymphatica). 1783 wurde der „Leveling'sche Vesal” in einer Auflagenhöhe von 1.500 Exemplaren in Ingolstadt gedruckt. Die Originalholztafeln blieben im Besitz der Bayerischen Landesuniversität und gingen mit ihr über Landshut nach München, wo sie 1934 in einem bibliophilen, ausschließlich lateinisch betexteten Werk ein letztes Mal abgedruckt wurden. Zehn Jahre später verbrannten die Druckstöcke beim Luftangriff auf München.

 

Literatur:

Choulant, Ludwig: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung nach ihrer Beziehung auf anatomische Wissenschaft und bildende Kunst. Leipzig 1852, S. 43-58.

Leveling, Heinrich Palmaz: Anatomische Erklärung der Original-Figuren von Andreas Vesal, samt einer Anwendung der Winslowischen Zergliederungslehre in sieben Büchern. Ingolstadt 1783 (Nachdruck Lindau 1982).

Maschenbaur, Andreas (Hg.): Andreae Vesalii Bruxellensis, Deß Ersten Besten Anatomici, Zergliederung deß Menschlichen Cörpers Auf die Mahlerey und Bildhauer-Kunst gericht. Die Figuren von Titian gezeichnet. Augsburg 1706.

Universitätsbibliothek München (Hg.): Andreae Vesalii Bruxellensis Icones anatomicae. München 1934.
Vesal, Andreas: De humani corporis fabrica libri septem. Basel 1543 (2. Aufl. Basel 1555).

Will, Georg Andreas: Bemerkungen über einige Gegenden des katholischen Deutschlands auf einer kleinen, gelehrten Reise gemachet. Nürnberg 1778.

Wittern, Renate: Die Präsentation des anatomischen Wissens im Buch des 16. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 59 (2005), S. 34-49.

Wittern, Renate: Die Gegner Andreas Vesals. Ein Beitrag zur Streitkultur des 16. Jahrhunderts. In: Gesundheit - Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit, hg. von Florian Steger und Kay Peter Jankrift, Köln 2004, S. 167-199.


Autorin:

Prof. Dr. Marion Ruisinger

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