Canthariden

Zum Arzneimittelschatz der frühneuzeitlichen Medizin gehörten nicht nur Heilpflanzen und mineralische Stoffe, sondern auch tierische Drogen. Wenn in historischen Rezepten auf die Heilkraft von Regenwürmern oder Kellerasseln zurückgegriffen wird, erscheint uns das heute recht befremdlich. Doch einige dieser Heiltiere haben ihre Bedeutung bis heute behalten, etwa die Blutegel und die, im Folgenden näher vorgestellten, Canthariden.

Bei den grünschillernden Canthariden handelt es sich, auch wenn sie im Deutschen als „Spanische Fliegen“ bekannt sind, nicht um Fliegen, sondern um Käfer der Species  Lytta vesicatoria L. (früher Cantharis vesicatoria) aus der Familie der Ölkäfer (Meloidae). Sie sind in Südeuropa und Nordafrika heimisch, kommen aber auch in Mitteleuropa vor. In der Pharmakognostischen Sammlung der Universität Erlangen wird heute noch ein Standglas mit Canthariden aufbewahrt, die vor rund 200 Jahren im fränkischen Umland gesammelt worden sind.

Die hübschen Käfer enthalten ein starkes Reizgift, das Cantharidin. Auf die Haut aufgebracht, führt es zunächst zur Blasenbildung, kann aber auch eine systemische Wirkung entfalten, die sich in der Reizung von Nieren und Harnwegen äußert. Diese reizende Wirkung auf die Schleimhäute der Harnwege ist auch der Grund dafür, warum das Pulver aus den zermahlenen Spanischen Fliegen als Potenzmittel bekannt ist. Seine orale Einnahme ist allerdings ein gefährliches Spiel. Bei Überdosierung kann es zum Tod durch akutes Nierenversagen kommen. Die letale Dosis liegt bei etwa 0,5 mg / kg Körpergewicht.

Die hier kurz skizzierten, drastischen biologischen Folgen der Cantharidin-Anwendung auf den menschlichen Körper haben den Spanischen Fliegen seit Jahrhunderten einen festen Platz in der Materia medica gesichert. Die Art und Weise, wie sie therapeutisch eingesetzt wurden, hat sich allerdings mit dem Wandel der medizinischen Therapieprinzipien stark verändert.

Für die humoralpathologisch argumentierende Medizin der Frühen Neuzeit war es wichtig, den Körper von überschüssigen Säften und verdorbenen Feuchtigkeiten zu befreien. Deswegen gehörte zum damaligen therapeutischen Arsenal eine ganze Reihe von ausleitenden Verfahren, etwa Aderlass und blutiges Schröpfen, die Gabe von Klistieren und das Herbeiführen von Erbrechen. Weniger bekannt sind diejenigen Verfahren, bei denen therapeutische Wunden angelegt wurden, um dem Körper die Möglichkeit zu geben, die ihn belastenden Säfte auszuscheiden. Dazu gehörte das Setzen von „Vesicatorien“. Hierbei wurden blasenziehende Pflaster appliziert, die zerstoßene spanische Fliegen enthielten. In der Folge entstanden große Blasen, die, wie der Chirurg Lorenz Heister 1743 schrieb, „mit einem dünnen scharffen Gewässer pflegen angefüllet zu seyn.“ Sie wurden eröffnet und, wenn nötig, durch das Aufstreuen von Cantharidenpulver „viele Tage im Fluß erhalten“. Heister beobachtete aber auch ganz richtig, dass diese Therapie bei intensiver Durchführung bei manchen Patienten „ein hefftiges Schneiden und Brennen im Urin zu erwecken [pflege]: welches ein gewisses Zeichen ist, daß von den Spanischen Fliegen was muß ins Geblüte gekommen seyn“. In diesem Falle, so Heister weiter, schaffe das Trinken von warmer Milch oft Linderung.

Mit dem Übergang von der humoralpathologischen zur naturwissenschaftlichen Medizin verloren die ausleitenden Verfahren – und damit auch die blasenziehenden Pflaster – an Bedeutung. Heute spielt diese klassische Anwendung nur noch im Bereich der Naturheilverfahren eine gewisse Rolle.
Gleichzeitig etablierten sich die Spanischen Fliegen aber in einem neuen, um 1800 formulierten Heilsystem: der Homöopathie. Hier gilt das Mittel „Cantharis“, von Samuel Hahnemann bereits 1805 in seinen „Fragmenta de viribus medicamentorum“ beschrieben, als probates Mittel bei prallen Blasen (etwa nach Verbrennung) und bei Beschwerden mit starkem Harndrang und brennenden Schmerzen bei der Miktion – getreu der Grundregel der Homöopathie, dass Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden solle (Similia similibus curentur).

Über ihren Wirkstoff Cantharidin, der 1810 von dem französischen Chemiker Pierre Jean Robiquet isoliert wurde, haben es die Spanischen Fliegen sogar in die moderne Forschung geschafft: Sie beschäftigt sich mit der Frage, ob die von Cantharidin bewirkte Inhibition der Proteinphosphatase therapeutisch genutzt werden könnte, um zelluläre Prozesse zu steuern.

Literatur:
Werner Dressendörfer, Martin Thoma: Cantharides, in: Udo Andraschke u. Marion Maria Ruisinger (Hg.), Die Sammlungen der Universität Erlangen. Erlangen 2007, S. 248
Lorenz Heister: Chirurgie. Nürnberg 1752, S. 432-434
Marion Maria Ruisinger (Hg.): Homöopathie. 200 Jahre Organon. Ingolstadt 2010, S. 100

Autorin:
Prof. Dr. Marion Ruisinger

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