Von den über 200 Arten von Arzneipflanzen, die im Garten des Deutschen Medizinhistorischen Museums kultiviert werden, hat es eine durch die Harry Potter-Romane zu einer richtiggehenden Berühmtheit gebracht: die Alraune (Mandragora officinarum) oder „mandrake“, wie sie auf Englisch heißt.
In ihrem zweiten Jahr an der Zauberschule Hogwarts müssen Harry, Ron und Hermione im Botanikunterricht junge Alraunenpflanzen umtopfen. Bei dieser Gelegenheit kann Hermione wieder einmal ihr Wissen zum Besten geben. Auf die Frage der Lehrerin, was das Gefährliche an der Alraune sei, antwortet sie prompt: „The cry of the Mandrake is fatal to anyone who hears it“ – und sammelt damit weitere 10 Punkte für Griffindor ein.
Wie so viele Namen, Orte, Tiere und Pflanzen in der Welt von „Harry Potter“ hat J. K. Rowling auch die Alraune und deren „tödlichen Schrei“ nicht frei erfunden. Vielmehr greift sie damit eine Legende auf, die bereits in der Antike kursierte und bis in die Frühe Neuzeit in immer neuen Varianten erzählt wurde. Ausschlaggebend für die große Heil-, ja Zauberkraft, die man der Alraune zuschrieb, war neben ihrer halluzinogenen Wirkung wohl vor allem die menschenähnliche Gestalt ihrer Wurzel. Daraus entstand die Vorstellung, dass die Pflanze mit einem lauten Schrei reagiere, wenn man ihr Gewalt antut und versucht, sie aus der Erde zu ziehen. Dieser Schrei aber sei tödlich für den Menschen.
Um dennoch in den Besitz der wertvollen Wurzel zu kommen, empfahl man einen Trick, der bereits in einer Handschrift aus dem 9. Jahrhundert beschrieben ist. Die Gebrüder Grimm schildern 1816 die Vorgehensweise für eine erfolgreiche Alraunenernte in ihren „Deutschen Sagen“ wie folgt: „Um ihn [den Alraun] zu erlangen, muß man am Freitag vor Sonnen-Aufgang [...] mit einem ganz schwarzen Hund [...] hinausgehen, drei Kreuze über den Alraun machen und die Erde ringsum abgraben, so daß die Wurzel nur noch mit kleinen Fasern in der Erde stecken bleibt. Darnach muß man sie mit einer Schnur dem Hund an den Schwanz binden, ihm ein Stück Brot zeigen und eilig davon laufen. Der Hund, nach dem Brot gierig, folgt und zieht die Wurzel heraus, fällt aber, von ihrem ächzenden Geschrei getroffen, alsobald todt hin“.
Auch um die weitere Behandlung der erfolgreich geernteten Alraunenwurzel ranken sich viele Erzählungen. So sollte das „Alraunenmännchen“ regelmäßig gebadet, und bekleidet und in ein Kistchen gebettet werden. Bei der richtigen Pflege und unter Einhaltung aller Vorschriften konnte ein solches Männchen seinem Besitzer Gesundheit, Reichtum und Kindersegen bringen. Das funktionierte aber nicht immer – bei käuflich erworbenen Alraunen konnte man leicht auf eine der vielen Fälschungen hereinfallen und statt einer Alraune eine zurechtgeschnitzte Wurzel von Zaunrüben (Bronia), Wegerichen (Plantago) oder anderen geeigneten Pflanzen erstehen. Aber auch bei echten Alraunen gab es Unterschiede. So berichten die Gebrüder Grimme, dass ein wirklich zaubermächtiges Alraunenmännchen nur unter dem Galgen zu finden sei, wo Harn und Sperma von gehenkten Dieben die Erde genetzt habe. Daher ist die Alraune im Volksmund wohl auch als „Henkerswurzel“ oder „Galgenmännchen“ bekannt.
Betrachten wir die Alraune abschließend noch kurz aus der Perspektive der modernen Botanik und Pharmazie: Die Pflanze Mandragora officinarum L. ist im gesamten Mittelmeerraum heimisch. Sie gehört zur Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae) und enthält die parasympatholytisch wirkenden Alkaloide Hyoscyamin, Scopolamin und Atropin. Früher hat man die Alraune als Schlaf- und Schmerzmittel sowie als Heilmittel gegen Depressionen eingesetzt. Heute ist sie praktisch nur noch in homöopathischen Zubereitungen im Handel.
Im Arzneipflanzengarten des Deutschen Medizinhistorischen Museums teilt sich die Alraune das Beet mit anderen Nachtschattengewächsen wie der Tollkirsche (Atropa belladonna), dem Stechapfel (Datura stramonium) und dem Bilsenkraut (Hyoscyamus niger). Doch die „Königin unter den Arzneipflanzen“, wie die Alraune auch genannt wird, gibt sich kapriziös und lebt ihren eigenen Rhythmus: Sie blüht viel früher als die anderen Vertreter ihrer Familie, zieht ihre Blätter schon bald wieder ein und lässt dann nur noch ihre auffälligen, kugelrunden grünen Beerenfrüchte auf der Erde zurück. Durch dieses eigenartige Verhalten zieht sie die Aufmerksamkeit der Gartenbesucher auf sich – und das schon lange vor Harry Potter.
Literatur:
Gebrüder Grimm (Hg.): Deutsche Sagen. Berlin 1816, S. 135-137
J. K. Rowling: Harry Potter and the Chamber of Secrets. London 2000, S. 100-105
Ingrid und Peter Schönfelder: Der neue Kosmos Heilpflanzenführer, Stuttgart 2001, S. 270
Autorin:
Prof. Marion Ruisinger