Lepra in Deutschland – die vergessenen Kranken von Memel | Das Prinzip der „sozialen Distanz“ wurde wohl bei keiner Infektionskrankheit so konsequent umgesetzt wie bei der Lepra. In der deutschen Bezeichnung „Aussatz“ ist es sogar namensgebend. Wer meint, dass sich in dieser Praxis die „medizinische Hilflosigkeit“ des Mittelalters manifestiere, der täuscht sich. Auch im frühen 20. Jahrhundert wurden Menschen in Deutschland noch wegen der Diagnose „Lepra“ aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen und zwangsisoliert. Eine solche Geschichte erzählt die vorgestellte Moulage.
Im Medizinhistorischen Museum Hamburg befindet sich das Portrait einer jungen Frau. Stirn und Wangen sind gerötet, die Haut übersät von rotbraunen Knötchen. Gefertigt wurde das Bildnis vor mehr als 100 Jahren aus Wachs. Es handelt sich um eine sogenannte Moulage. Moulagen (frz. „mouler“ – etwas abformen) sind Wachsnachbildungen von Krankheitserscheinungen auf der Haut. Sie wurden auf der Grundlage von Gipsabdrücken realer Patientinnen und Patienten angefertigt und dienten insbesondere in der Dermatologie als Lehrmittel.
Nur selten geben die erhaltenen Objekte konkrete Hinweise auf die Identität der dargestellten Kranken. Die Moulage der jungen Frau ist eine Ausnahme. Noch dazu zeigt sie das Bild einer Krankheit, die bereits zum Zeitpunkt der Anfertigung selten geworden war. „Lepra tuberosa“, heißt es auf dem historischen Etikett. Die Lepra gehört zu den ältesten Plagen der Menschheitsgeschichte. Zu den Symptomen dieser bakteriellen Infektionskrankheit gehört die Ausbildung von Knoten und Flecken auf der Haut, insbesondere im Gesicht. Schon in der Bibel als „Aussatz“ beschrieben, war die Seuche in Mitteleuropa weit verbreitet, bevor sie am Ende 16. Jahrhunderts weitgehend verschwand.
Wie jedoch kam die Lepra zur Jahrhundertwende in eine deutsche Sammlung? Die Spurensuche führt zunächst nach Berlin, in die Privatklinik von Oscar Lassar (1849-1907). Auf ihn verweist die zeitgenössische Beschriftung des Objekts. Für Lehr- und Forschungszwecke hatte sich der Dermatologe ab 1889 durch den Bildhauer Heinrich Kasten (1842-1921) eine umfangreiche Moulagensammlung anfertigen lassen. Als der gebürtige Hamburger Lassar starb, vermachte die Witwe die Sammlung seiner Heimatstadt, wo ein Großteil der Objekte im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.
Zu den erhaltenen rund 175 Moulagen gehört das Gesicht des leprakranken Mädchens Urte Müller. Dieser Name findet sich auf der Rückseite der Moulage, dazu die Datierung „Juni 1904“. Ihre Geschichte lässt sich jedoch erst anhand einer weiteren Aufschrift erhellen: „Memel“. Dort war es um die Jahrhundertwende zur letzten größeren Lepra-Endemie im Deutschen Reich gekommen. Zahlreiche namhafte Lepraforscher begaben sich in die Region am nordöstlichsten Ende Ostpreußens, unter ihnen Oscar Lassar. Die Empfehlung der Ärzte knüpfte an mittelalterliche Traditionen an: die völlige Isolation der Erkrankten. So entstand in einem Birkenwald nördlich der Stadt Memel 1899 das „Königliche Lepraheim“. Zu den Internierten gehörte ab 1901 auch Urte Müller: Als Tochter einer Erkrankten stand sie bereits unter Beobachtung durch den Kreisarzt Urbanowicz. Das Reichsseuchengesetz gab ab 1900 die Grundlage für den Umgang mit den Erkrankten.
„Innerhalb hoch umzäunter Gartenanlagen” bot das Leprakrankenheim je acht männlichen und weiblichen Kranken Platz. Gemeinsam mit 14 weiteren Erkrankten fand Urte Müller hier ihre neue Heimstätte: für die junge Magd der Abschied aus ihrem bisherigen Leben in ein isoliertes Dasein. Ärzte und Behörden bemühten sich, die fürsorgliche Unterbringung der Patientinnen zu betonen. Zugleich häuften sich Berichte über Beschwerden, Fluchtversuche und gewalttätige Vorkommnisse im Heim. Auch Urte Müller litt unter der hoffnungslosen Isolation: „Gegenwärtig sieht die Lepröse blass aus und durch Missbrauch von Alkohol […] angegriffen“, berichtete Urbanowicz vier Jahre nach ihrer Aufnahme: „Auch Morphium ist ihr Lieblingsmittel, welches sie sich zum Teil von ihrer Großmutter erbittet, zum Teil auch von anderen Kranken erbettelt.“
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt die Lepra als unheilbar. Die therapeutischen Möglichkeiten waren begrenzt. Üblich war die Behandlung mit den Ölen der Chaulmoogra-Nuss. Auch Urte Müller wurde mit „Einsalbungen der Knoten“ behandelt und erhielt täglich Kapseln des Öls. Die Behandlung brachte nur lokale Besserung, insgesamt verschlechterte sich der Zustand der Patientin zusehends. Neue Hoffnung gab den Kranken Oscar Lassar: Im April 1904 wandte er sich mit dem Vorschlag an das preußische Kultusministerium, „eine Reihe [von Kranken] mit Röntgen-Strahlen zu behandeln.“
Das Ministerium willigte ein. Neun Leprakranke meldeten sich freiwillig – unter ihnen Urte Müller. Umgesetzt wurde das Experiment zwei Monate später: „Ein Monteur […] stellte den Röntgenapparat im Zimmer des Arztes auf; der Modelleur Kasten aus Berlin fertigte von den zu bestrahlenden Kranken vor der Bestrahlung Abbildungen an und sollte dieselben auch nach abgeschlossener Behandlung, um einen Vergleich über den Erfolg der Radiotherapie zu ermöglichen, nochmals anfertigen“, berichtete Kreisarzt Urbanowicz.
Damit erklärt sich zugleich der Kontext unserer Wachsmoulage: Sie war nicht als Lehrmodell angefertigt worden, sondern als Befunddokument eines therapeutischen Experiments. Dieses blieb letztlich erfolglos, wie auch Lassar eingestehen musste. Seinen Vorschlag, Urte Müller zur Fortsetzung der Behandlung in die Berliner Privatklinik zu überführen, lehnte das Ministerium ab. Für die junge Frau endete damit die Hoffnung auf eine Genesung. Im Juni 1909, zwei Jahre später, ging im Berliner Gesundheitsministerium eine knappe Mitteilung ein: „Die Leprakranke Urte Müller […] ist am 6ten d. Mts. im Lepraheim in Memel verstorben.“
Autor:
Henrik Eßler M.A.
Medizinhistorisches Museum Hamburg
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistr. 52
20246 Hamburg
www.uke.de/mmh
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Literatur:
Henrik Eßler: Urte Müller. Die Biografie einer Moulage. In: David Ludwig / Cornelia Weber / Oliver Zauzig (Hg.): Das materielle Modell. Objektgeschichten aus der wissenschaftlichen Praxis. Paderborn 2014, S. 53-62
Veröffentlicht am 14.4.2020 als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History