Impfen V

Missgeschick mit Folgen | Weltweit beschäftigt derzeit die Covid-19-Pandemie ForscherInnen mit der Suche nach einem geeigneten Impfstoff. Mit der Kuhpockenimpfung konnte seit Beginn des 19. Jahrhunderts erstmals eine Seuche erfolgreich eingedämmt werden. Ein neuer Impfstoff gab in den 1920er Jahren Hoffnung, auch der grassierenden Tuberkulose Herr zu werden. Seine Erprobung in einem Lübecker Krankenhaus mündete jedoch in eine Katastrophe: Hunderte Säuglinge erkrankten, 77 von ihnen verstarben. An das Unglück erinnert heute ein kupfernes Schränkchen im Medizinhistorischen Museum Hamburg. In dem Inkubator waren seinerzeit Impfkulturen gemeinsam mit Tuberkulosebakterien untergebracht worden – ein verhängnisvoller Fehler.

Lübeck im Herbst 1929: Im Allgemeinen Krankenhaus laufen die Vorbereitungen für einen großangelegten Impfversuch. Klinikleiter Georg Deycke (1865-1938) und der Leiter des Gesundheitsamtes Ernst Altstaedt (1885-1953) setzen darauf, bereits Neugeborene gegen Tuberkulose zu immunisieren. Dazu greift die Lübecker Klinik auf eine Methode zurück, die in Frankreich bereits seit Jahren angewandt wird: Die sogenannte BCG-Impfung, benannt nach ihren Entwicklern Albert Calmette (1863-1933) und Camille Guérin (1872-1961).

Die Impfung basiert auf einem Erreger der Rindertuberkulose , der durch wiederholte Fortzüchtung abgeschwächt worden ist. Ausgeliefert wird der Impfstoff von seinem Hersteller, dem bekannten Institut Pasteur in Paris, in versiegelten Ampullen – versehen mit einem wichtigen Hinweis: „... L’étuve qui les contient ne recevera aucun autre microbe, surtout aucun autre bacille tuberculeux ...“ („Der die Kulturen enthaltende Brutschrank darf keine anderen Mikroorganismen enthalten, insbesondere aber keine anderen Tuberkulosebakterien...“).

Eben diese Vorgaben werden in Lübeck missachtet. Nachdem ein Thermostatfehler im Sommer sämtliche Tuberkulose-Kulturen des Krankenhaues vernichtet hat, bestellt das Krankenhaus am 9. September 1929 für seine Forschungsarbeiten einen neuen Bakterienstamm – genannt „Werner“ – aus dem Hygienischen Institut in Kiel. Sein charakteristisches Merkmal: eine blaugrünstichige Farbe, welche die gezüchteten Kulturen nach zwei bis vier Wochen annehmen. Untergebracht werden die Gläser mit dem Mykobakterium tuberculosis im selben Brutschrank wie die französischen BCG-Kulturen.

Für die Vorbereitung des Impfstoffes setzt die Laborschwester einen Eiernährboden an, der über 14 Tage mit dem Impfstoff bebrütet, anschließend fein zerrieben und mit einer Traubenzucker-Glyzerinlösung gemischt wird. Die Emulsion soll den Kindern als Schluckimpfung verabreicht werden und wird in einer Packung von je drei Fläschchen pro Kind an die Hebammen abgegeben. Angeworben werden diese, indem ihnen eine Reichsmark für jedes geimpfte Kind in die Unterstützungskasse ihres Hebammenvereins gezahlt wird.

Auf diese Weise gelingt es, innerhalb kurzer Zeit über 60 Prozent aller Neugeborenen im Krankenhaus der Impfung zu unterziehen. Im Februar 1930 beginnt der Impfversuch, der in den Lübecker Zeitungen propagandistisch begleitet wird – ohne allerdings das Vorhaben konkret zu benennen. Auch die ersten Todesfälle in Zusammenhang mit den Impfungen werden nicht gemeldet. Als bis Ende April weitere folgen, bricht Deycke den Versuch ab und vernichtet seine Impfdosen. Auf die Rückforderung der bereits verteilten Fläschchen verzichtet er jedoch, um weiteres Aufsehen zu vermeiden.

Die Folgen sind erschreckend: Von den insgesamt 251 Geimpften sind 208 an Tuberkulose erkrankt, 77 von ihnen sterben. Weitere 126 der behandelten Kinder zeigen bei nachfolgenden Kontrollen Spätfolgen einer schweren Tuberkulose. Erst im Mai unterrichtet Altstaedt die übrigen Behörden, die eine Untersuchung einleiten. Die Öffentlichkeit wird aufmerksam auf den Fall, ein Skandal ist nun nicht mehr zu vermeiden. International wird er – in Anlehnung an eine bekannte Darstellung in der Marienkirche – als „Lübecker Totentanz“ bekannt.

Auf welchem Wege die Verunreinigung der Impfkulturen stattgefunden hat, lässt sich in den gerichtlichen Untersuchungen nicht nachweisen. Fest steht aber: Es hat eine Kreuzkontamination mit dem virulenten Stamm stattgefunden, dessen blaugrüne Färbung sich bei erhaltenen Impfdosen nachweisen lässt. Die verantwortlichen Ärzte suchen den Fehler indes bei der Laboratoriumsschwester, die nicht im Umgang mit Bakterienkulturen ausgebildet worden sei.

Die fehlende räumliche Trennung der Bakterienkulturen ist nicht der einzige Verstoß gegen Sorgfaltskriterien, der den Verantwortlichen vorgeworfen wird. So hatten Deycke und Altstaedt auch auf die sonst übliche Erprobung des angemischten Impfstoffs im Tierversuch verzichtet. Die Untersuchung der verstorbenen Kinder weist darüber hinaus auf diverse Behandlungsfehler bei der Verabreichung des Impfstoffs hin: Um das Schlucken der Impflösung zu erleichtern, wurde den Kindern von einzelnen Hebammen die Nase zugehalten. In der Folge war der Erreger in die Atemwege gelangt, wo er Aspirations-Lungentuberkulosen und tuberkulöse Mittelohrentzündungen auslöste.

Im abschließenden Ärzteprozess wird Altstaedt wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung zu 15 Monaten, Georg Deycke zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Der Chefarzt der Kinderklinik und die Laborschwester werden aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Folgen hat das Geschehen auch für die medizinische Entwicklung in Deutschland. Die BCG-Impfung wird verboten. Während des Nationalsozialismus werden jedoch in großem Stil tödliche BCG-Impfversuche an behinderten Kindern durchgeführt, deren Ergebnisse teilweise nach 1945 von den Tätern publiziert werden. Das führt dazu, dass 1947 die Tuberkuloseimpfung letztlich eingeführt wird. Aufgrund ihrer begrenzten Wirksamkeit wird sie seit 1998 nicht mehr empfohlen.

Autor:
Henrik Eßler M.A.
Medizinhistorisches Museum Hamburg
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistr. 52
20246 Hamburg
www.uke.de/mmh
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Literatur:
- Hahn, Susanne: „Der Lübecker Totentanz“. Zur rechtlichen und ethischen Problematik der Katastrophe bei der Erprobung der Tuberkuloseimpfung 1930 in Deutschland. In: Medizinhistorisches Journal 30 (1995), S. 61-79
- Jonas, Hannah Elisabeth: Das Lübecker Impfunglück 1930 in der Wahrnehmung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Lübeck 2008
- Reuland, Andreas: Menschenversuche in der Weimarer Republik. Norderstedt 2004
- Rieder, Hans L.: Die Abklärung der Lübecker Säuglingstuberkulose. In: Robert Kropp (Hg.): Pneumologie. Ein historisches Kaleidoskop – Überraschendes, Kurioses, Lehrreiches. Stuttgart 2011, S. 216-219

Veröffentlicht am 29.4.2020 als Beitrag für die Galerie Covid-19 & History

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