Beten IV

Eine Epidemie ohne Erreger | Viele Seuchen, die früher die Menschheit gequält haben, können wir heute durch Viren oder Bakterien erklären – Pocken, Lepra, Pest und Cholera zum Beispiel. Bei anderen gelten inzwischen Parasiten als Ursache der Krankheit – etwa bei Malaria oder Krätze. Eine historische Epidemie, die hier völlig aus der Reihe tanzt, ist das „Heilige Feuer“ (Ignis sacer). Am letzten Tag der Covid-19-bedingten Museumsschließung möchten wir diese besondere Geschichte zum Thema machen – und dabei einen kraftvollen Holzschnitt vorstellen, das älteste Blatt unserer graphischen Sammlung.

Die Darstellung zeigt einen bärtigen alten Mann mit einem Heiligenschein. In der Linken hält er einen Stab, der in einem dekorativ gearbeiteten, mit einem Rosenzweig geschmückten Aufsatz endet. Die Rechte hat er zum lateinischen Segensgruß erhoben: Die drei ausgestreckten Finger weisen auf die Dreifaltigkeit, die beiden gekrümmten Finger auf die göttliche und die menschliche Natur Christi. An der Stange hinter ihm sind eine Glocke und Votivgaben aufgereiht: Hände, Füße und Arme aus Holz oder Wachs. Zur Rechten des Heiligen kniet ein Mann, eine Hand in einer flehenden Geste erhoben. Er sieht unversehrt aus – und dennoch leidet er an einer schrecklichen Krankheit: dem „heiligen Feuer“. Das sollen die Flammen andeuten, die ihm vom Himmel und von der Erde entgegen züngeln. Was ist hier noch zu sehen? Ein Gebäude im Hintergrund mit einem T-förmigen Kreuz auf der Turmhaube – und rechts vorne im Bild ein Tier, das seine Borsten als Schwein kennzeichnen. Wie passt das alles zusammen? Wer ist der Heilige, und was verbirgt sich hinter dem „heiligen Feuer“?

Das „heilige Feuer“ war eine Krankheit, die in manchen Gegenden und in manchen Jahren wie eine Epidemie aufflammte. Sie verursachte zunächst brennende Schmerzen in den Fingern und Zehen, oft starben diese sogar ab, so dass eine Amputation durchgeführt werden musste. Einst soll der Sohn eines französischen Adligen unter dieser Krankheit gelitten haben. Er suchte das Grab des Heiligen Antonius von Ägypten auf, dessen Knochen von einem französischen Ritter von Konstantinopel nach Frankreich gebracht worden waren – und wurde von seinem Leiden geheilt. Pilger begannen, zum Grab des Heiligen in St.-Antoine-l’Abbaye (Departement Isère) zu strömen. Die Krankheit wurde in „Antoniusfeuer“ umgetauft. Um die Kranken zu versorgen, wurde der Antoniter-Orden gegründet. Hunderte von Antoniter-Spitälern entstanden, in denen die Kranken amputiert und verpflegt wurden. Für den Unterhalt der Klöster durften die Antoniter Almosen sammeln und seit 1298 in den Gassen der Städte „Antonius-Schweine“ frei laufen lassen. Diese Schweine waren durch ein Glöckchen gekennzeichnet und wurden von den Gläubigen mit Essensresten gefüttert. Das Fleisch der Schweine wurde für die Krankenversorgung verwendet, mit dem Schmalz rührten die Antonitermönche Heilsalben an.

In der christlichen Ikonographie ordnet man dem heiligen Antonius daher auch die Attribute „Glocke“ und „Schwein“ zu. Ferner wird er durch die Mönchskutte, den Stab und das T-Kreuz gekennzeichnet, die darauf hinweisen, dass Antonius während der Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian erste Mönchsgemeinschaften gründete. Er gilt daher auch als „Vater des Mönchtums“. Übrigens: Es gibt noch einen anderen, sehr bekannten Heiligen dieses Namens: den heiligen Antonius von Padua. Doch der hat eine ganz andere Zuständigkeit – unter anderem soll er einem helfen, verlorene Dinge wiederzufinden. Deswegen werden die beiden auf gut Bayerisch auch als „Sau-Toni” und „Schlamper-Toni” auseinandergehalten...

Doch was hat es nun mit dieser Krankheit auf sich, werden Sie sich fragen? Durch was kann eine Epidemie denn noch ausgelöst werden, wenn nicht durch Viren, Bakterien oder Parasiten? Beim Antoniusfeuer handelte es sich vermutlich um eine Vergiftung mit Alkaloiden aus dem Mutterkorn (Secale cornutum). Diese auffälligen schwarzen, hornähnlichen Wucherungen treten gehäuft an Roggenähren auf, wenn zur Blütezeit des Roggens feuchtes Wetter herrscht und die Windbestäubung nicht hinreichend stattfinden kann. Dann dringen die Sporen des Mutterkornpilzes (Claviceps purpures) in die Blüten ein und lösen die Entwicklung des Mutterkorns aus. Wird es mit dem Korn vermahlen, geht sein Gift auf das Roggenbrot über. Wer sich feines Weizenbrot leisten konnte oder den Roggen vor dem Mahlen mit der Hand verlas, blieb vom Antoniusfeuer verschont.

Autorin:
Prof. Dr. Marion Ruisinger
Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt

Literatur:
Marion Ruisinger (Hg.): Heilige und Heilkunst. Ingolstadt 2009 (= Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums 33)

Veröffentlicht in der Galerie „Covid-19 & History“ am 16.5.2020

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