Beten I

Sebastianspfeile als Schutz vor Ansteckung | In existentiellen Krisen suchen viele Menschen Trost im Glauben und im Gebet, so auch bei der aktuellen Covid-19-Pandemie. Umso schmerzlicher ist es für viele Gläubige miterleben zu müssen, dass allen Konfessionen mittlerweile auch die öffentliche Abhaltung von Gottesdiensten und Messen aufgrund der hohen Infektionsgefahr verboten ist. Zwar sind viele Bistümer dazu übergegangen, die sonntägliche Messe live im Fernsehen, Radio oder Internet zu übertragen. Für Gläubige, denen gerade das gemeinschaftliche Beten mit Gleichgesinnten Kraft und Trost spendet, bieten diese Angebote jedoch keinen wirklichen Ersatz. Auch organisierte Wallfahrten in größeren Gruppen sind in Corona-Zeiten strikt untersagt.

Was wohl Probst Hunfried aus dem oberbayerischen Ebersberg zu all diesen Verboten gesagt hätte? Der Augustinermönch brachte um das Jahr 1000 eine besondere Reliquie an diesen kleinen Ort. Es handelte sich um die Hirnschale des hl. Sebastian, die Ebersberg in weiterer Folge zu einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte im süddeutschen Raum machte. Aus nah und fern strömten die Massen in die Kirche, um gemeinsam mit dem Priester die Heilige Messe zu feiern und in der Hoffnung, einen Blick auf die kostbare Knochenreliquie zu werfen oder sie gar berühren zu dürfen.

Die Hirnschale ist seit dem späten Mittelalter in eine kunstvoll gefertigte, lebensgroße Büste des Heiligen eingearbeitet. Sie befindet sich in deren Kopfbedeckung und kann mit dieser abgenommen werden. Zu besonderen Anlässen tranken Wallfahrer geweihten Wein aus dieser Schale und nahmen so den besonderen Schutz des Heiligen in sich auf. Dieser Schutz wurde vor allem in Pestzeiten von den Wallfahrern gesucht, denn der hl. Sebastian galt seit dem Mittelalter als Pestpatron. Zu „gewöhnlichen“ Zeiten konnten die Gläubigen kleine Pfeile aus Silber als Andenken an ihre Wallfahrt erwerben. Diese Metallpfeile wurden an der Hirnschale des Heiligen „anberührt“, anschließend geweiht und sollten gegen die Pest, generell aber gegen alle ansteckenden Krankheiten schützen.

Doch was haben diese Pfeile mit dem Heiligen und der Pest zu tun? Der Legende nach diente Sebastian als ranghoher Offizier in der römischen Armee. Da er seinem christlichen Glauben nicht abschwören wollte, ließ ihn sein Kommandant an einen Baum fesseln und wies Bogenschützen an, ihn zu töten. Sebastian wurde von Dutzenden Pfeilen durchbohrt, überlebte jedoch auf wundersame Weise. Und genau diese Episode in seiner Heiligengeschichte machte Sebastian zum beliebtesten Patron gegen die Pest. Denn in früheren Zeiten war man der Auffassung, dass Krankheiten durch ein Geschoss verursacht werden, das unbemerkt von einem Dämon oder einer übel gesinnten Person auf einen Menschen abgeschossen wird. Auch für die religiöse Deutung der Pest, die ab dem Mittelalter in regelmäßigen Zügen Europa heimsuchte, griff man auf das Bild der von Gott zur Strafe für sündhaftes Verhalten auf die Menschen abgeschossenen Pfeile zurück.

Auch heute noch legen Geistliche in Ebersberg kleine Pfeile aus Zinn in die Hirnschale des Heiligen Sebastian. Die so anberührten Pfeile werden an Wallfahrer abgegeben, die sie als Schutz vor ansteckenden Krankheiten in der Geldbörse oder an einer Kette um den Hals tragen. Wer weiß, vielleicht erfährt diese jahrhundertealte Tradition im Angesicht von Covid-19 einen neuen Aufschwung?

Literatur:
- Honko, Lauri: Krankheitsprojektile. Untersuchung über eine urtümliche Krankheitserklärung. Helsinki 1959 (=Folklore Fellows Communications 178)
- Ruisinger, Marion Maria (Hg.): Heilige und Heilkunst. Katalog zur Ausstellung. Ingolstadt 2009 (=Kataloge des Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt 33)

Autor:
Dr. Alois Unterkircher
Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt
www.dmm-ingolstadt.de

veröffentlicht am 29.3.2020 

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