„Eiserne Lunge“ zur Aufrechterhaltung der Atmung bei Kindern mit Poliomyelitis | + 28.000 + Diese Zahl haben wir in den letzten Tagen in vielen Presseberichten gelesen. 28.000: So viele Intensivbetten gibt es in Deutschland zu Zeiten der Regelversorgung. Hinter jedem einzelnen Platz stehen weitere Zahlen – die Anzahl der speziell geschulten Pflegekräfte, die rund um die Uhr für die Patientenversorgung anwesend sein müssen; die Anzahl der medizintechnischen Apparaturen, die jedem Bett zugeordnet sind; die Anschlüsse für Sauerstoff, Vakuum, Strom und EDV-Daten, die benötigt werden, um diese Geräte zu betreiben; die Anzahl der Experten Innen für Hard- und Software, die dafür sorgen, dass diese Systeme funktionieren; und natürlich auch die Anzahl der auf Intensivmedizin spezialisierten Ärztinnen und Ärzte, die für die Behandlung verantwortlich sind.
Aus diesem differenzierten Mikrokosmos der intensivmedizinischen Versorgung sticht zu Zeiten der Covid-19-Pandemie ein Element ganz besonders hervor: das Beatmungsgerät. Bei schweren Krankheitsverläufen wird die Lunge so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass eine technische Unterstützung der Atmungsfunktion notwendig wird: zunächst nur durch Sauerstoff, später auch durch künstliche Beatmung. Dass uns heute zuverlässige Geräte zur Langzeitbeatmung von Intensivpatienten zur Verfügung stehen, haben wir letztlich einer anderen Pandemie zu verdanken: der Kinderlähmung (Poliomyelitis, kurz Polio).
Als sich das Polio-Virus in den 1950er Jahren in Europa und den USA ausbreitete, gab es dagegen keine Impfung und keine Medikamente; bei schweren Krankheitsverläufen kam es zur Verschlechterung der Atmung. Das erinnert an die heutige Situation. Aber im Unterschied zu Covid-19 lag das Problem damals nicht in einer Schädigung der Lunge, sondern in einer Lähmung der Atemmuskulatur. Bei diesen Kranken war die Lunge völlig gesund, aber ihnen fehlte die Kraft zum Atmen. Sie konnten nur durch eine Maschine am Leben gehalten werden, die der Atemmuskulatur die Arbeit abnahm. Der amerikanische Ingenieur Philip Drinker hatte so ein Gerät bereits Ende der 1920er Jahre entwickelt. Jetzt, zwanzig Jahre später, wurde es für viele Menschen lebenswichtig: Es wurde bekannt als „Eiserne Lunge” (auch wenn es eigentlich eher ein „eiserner Brustkorb“ war).
Wie hat man sich die Funktionsweise vorzustellen? Die Kranken sind so in der Eisernen Lunge gebettet, dass nur der Kopf herausschaut. Ihr Hals wird durch eine weiche Manschette umfasst, die zum Inneren der Maschine hin luftdicht abschließt. Der Luftdruck im Inneren der Eisernen Lunge wechselt rhythmisch: Wenn er ansteigt, wird der Brustkorb des Kranken zusammengedrückt, so dass die Luft aus dem Brustkorb herausgedrückt wird (= Ausatmung). Wenn er sinkt, dehnt sich der Brustkorb wieder aus und Luft strömt in die Lunge hinein (= Einatmung). Spezielle Halterungen über dem Kopfbereich ermöglichten das Lesen, Spiegel halfen beim Überblicken des Raums. Die meisten Erkrankten verblieben nur so lange in der Eisernen Lunge, bis die Lähmung der Atemmuskulatur wieder abgeklungen war. Es gab aber auch Kranke, bei denen sich die Muskulatur nie erholte. Sie waren ein Leben lang auf die Eiserne Lunge angewiesen.
Die Eisernen Lungen halfen Leben retten, aber sie waren für die Kranken und die Pflegenden eine sehr unangenehme und unpraktische Lösung. Dies führte zur Entwicklung neuer, den Bedürfnissen besser angepasster und exakter zu steuernder Beatmungsmethoden wie der Intubationsbeatmung oder der häuslichen Maskenbeatmung. Auf diese Weise ging von der Polio-Pandemie ein Innovationsschub für die Technik der Langzeitbeatmung aus – und ein Professionalisierungsschub für die damit betrauten Ärztinnen und Ärzte: Am 10. April 1953 wurde in München die „Deutsche Gesellschaft für Anästhesie“ gegründet (heute: Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, DGAI). Übrigens in einem Vortragssaal des Deutschen Museums!
Literatur / Links:
Zur Geschichte der DGAI: https://www.dgai.de/die-dgai/geschichte.html
Autorin:
Prof. Dr. Marion Ruisinger
Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt
www.dmm-ingolstadt.de
geschrieben im Homeoffice am 24.3.2020