Das strahlend blaue Glasfläschchen mit seiner klar gestalteten Silberfassung wirkt eigentlich recht ästhetisch, auch wenn es für einen eher unappetitlichen Zweck erdacht worden war: Was aussieht wie ein gläserner Flachmann, ist ein „Taschenfläschchen für Hustende”.
Unter dem Klappdeckel verbirgt sich ein silberner Trichter zur Aufnahme des Sputums. Der Fuß ist abschraubbar, so dass sich das Fläschchen leicht mit Wasser oder einer Desinfektionslösung durchspülen und reinigen ließ. Die transparente Wandung erlaubte die Blickkontrolle des Füllungsgrads, wobei der unansehnliche Inhalt gleichzeitig durch die kräftige Färbung des Kobaltglases den Blicken Dritter entzogen wurde.
Das „Taschenfläschchen für Hustende” stammt aus den Jahrzehnten zwischen der Entdeckung der Tuberkulose-Erreger durch Robert Koch im Jahr 1882 und der Entwicklung einer wirkungsvollen medikamentösen Therapie in der Nachkriegszeit. Die Behandlung Tuberkulosekranker war in diesen Jahrzehnten von Sanatoriumsaufenthalten mit langwierigen Liegekuren und von chirurgischen Therapieversuchen mit Thorakoplastik, Pneumothorax und Lobektomie bestimmt. Umso größer war die Bedeutung, die den präventiven Maßnahmen und der Hygieneerziehung zukam. Das ungenierte Ausspucken auf den Boden galt zunehmend als unschicklich. In Straßenbahnen, Klassenzimmern und anderen öffentlichen Orten wurden Spucknäpfe aufgestellt, und wer an offener Tuberkulose litt, trug einen „Taschenspucknapf” bei sich – oder ein elegantes kobaltblaues Taschenfläschchen.
Der Erfinder dieses praktischen Hilfsmittels war der Arzt Peter Dettweiler (1837–1904), der 1876 die Leitung der neu gegründeten Lungenheilanstalt „Falkenstein“ im Taunus übernahm und sich dort für die Etablierung der Liegekur Verdienst erwarb. 1889, nur wenige Jahre nach der Erstbeschreibung der Tuberkulosebazillen, stellte er auf dem 8. Kongress für Innere Medizin in Wiesbaden das von ihm entwickelte Fläschchen vor. Hergestellt wurde es von der Firma Noelle & Co. in Lüdenscheid, die es für „1 Mark 50” vertrieb. Dettweiler betrachtete es als „heilige Pflicht […] jedem Hustenden […] den Gebrauch dieses einfachen, billigen Gerätes” zur Auflage zu machen.
Literarische Berühmtheit erlangte das Sputumfläschchen durch Thomas Manns Roman „Der Zauberberg”. Schon auf der Fahrt vom Bahnhof zum Sanatorium, wo Hans Castorp seinen kranken Vetter Joachim besucht, darf er einen Blick auf die „flache, geschweifte Flasche aus blauem Glase mit einem Metallverschluß” werfen. Joachim lässt sie jedoch gleich wieder in seine Manteltasche gleiten, mit den Worten: „Das haben die meisten von uns hier oben. […]. Es hat auch einen Namen bei uns, so einen Spitznamen, ganz fidel.” Später erfährt Hans Castorp diesen Namen aus dem Mund der ungebildeten Frau Stöhr: „Ganz ohne Überwindung”, so Thomas Mann, „mit störrisch unwissender Miene, brachte sie die fratzenhafte Bezeichnung «Der Blaue Heinrich» über die Lippen.”
Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt a.M. 1991, S. 17, 111.
Stefan Schulz: Der Blaue Heinrich. Ein Taschenfläschchen für Hustende. In: Rubens Nr. 33 (1998), S. 4
Prof. Dr. Marion Ruisinger