Das aus Silberblech getriebene Wickelkind oder „Fatschenkind” mutet auf den ersten Blick recht weihnachtlich an. In katholischen Gegenden werden bald wieder ähnlich eng gewickelte Kinderfiguren an den Hochaltären ausgestellt, wo sie meist bis Lichtmess zu sehen sind, so etwa das „Augustinerkindl” in der Bürgersaalkirche in München. Diese Wickelkinder sollen an das Christuskind erinnern und sind entsprechend aufwendig gearbeitet und reich verziert.
Das hier gezeigte Fatschenkind aus der Sammlung des Medizinhistorischen Museums hat eine andere Bedeutung. Es sollte nicht der Menschwerdung Gottes Gestalt verleihen, sondern den Sorgen von Frauen, die sich in ihrer Not an die Muttergottes wandten. Sie unterstrichen ihre Gebetsanliegen durch das Opfer eines Fatschenkind-Votivs oder dankten damit für eine erfolgte Gebetserhörung. Dabei konnte es sich um ganz unterschiedliche Anliegen handeln, vom unerfüllten Kinderwunsch über die Angst vor einer schweren Geburt bis hin zur Sorge um einen kranken Säugling.
Das kleine Fatschenkind aus Silberblech verweist damit auf die Grenzen der frühneuzeitlichen Medizin und die Hoffnung der Betroffenen auf himmlischen Beistand. Es dokumentiert aber auch ein Grundelement der damaligen Säuglingspflege: das Wickeln der Kinder. Daran knüpfen sich Fragen an: Warum hat man die Kinder früher gefatscht? Wieso ist man davon abgekommen? Und welche Bedeutung hat das Fatschen heute?
Die wichtigste Funktion des Fatschens war die Prävention verkrümmter Gliedmaßen. So schreibt ein Passauer Arzt im Jahr 1601, dass das „auff die Welten newgebrachte Kind [...] gewaschen / und [...] geseubert / die Gliedlein alle / wie sie seyn sollen / gerichtet und recht geordnet / ferners auch / und damit es nit in die Krümme wachse [...] / der Gebür nach gebunden unnd eingewicklet” werden müsse. Außerdem sei es praktisch, weil man ein gewickeltes Kind leichter und sicherer handhaben könne. Mancherorts soll man die Wickelkinder sogar an der Wand aufgehängt haben, um sie vor den in der Stube herumlaufenden Tieren zu schützen.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts häuften sich kritische Stimmen seitens der Ärzteschaft. Die Vertreter der medizinischen Aufklärung prangerten vor allem das zu feste Wickeln an – eine, wenn man den Autoren Glauben schenken darf, sehr verbreitete Unsitte. Johann Peter Frank forderte daher 1786 in seinem „System einer Medicinischen Polizey”, dass junge Ehepaare „bey dem der Verehelichung vorauszuschickenden Unterricht” auch über das richtige Wickeln belehrt werden sollten”.
Noch radikaler äußerten sich die Philosophen. Rousseau schrieb im „Emile”: „Duldet es nicht, daß dem Kind nach dem erste Atemzug eine neue Hülle gegen wird, die es noch enger fesselt. Keine Häubchen, keine Binden, keine Wickeln, sondern große, nicht zu eng sitzende Windeln, in denen es alle Glieder frei bewegen kann [...]. In den Städten werden die Kinder vor lauter Einsperren und Einwickeln erstickt.” Und Kant urteilte in seiner Vorlesung „Über Pädagogik”: „Es ist auch blos Bequemlichkeit von uns, daß wir die Kinder wie Mumien einwickeln [...]. Man wickle aber nur einmal einen großen Menschen ein, und sehe doch, ob er nicht auch schreyen, und in Angst und Verzweiflung gerathen werde.”
In der Folge ließ man vom engen Wickeln der Säuglinge allmählich ganz ab. Im 20. Jahrhundert wurde der fröhlich frei strampelnde Säugling zur Ikone des glücklichen Babys. Doch die Zeiten scheinen sich zu wandeln. Seit einigen Jahren wickeln Hebammen die Neugeborenen wieder fest in Tücher ein. Und diese scheinen die aus dem Mutterleib vertraute Enge zu genießen. Auch wenn diese Praxis heute nicht mehr (bayerisch) „Fatschen” sondern (neudeutsch) „Pucken” heißt, steht sie doch in einer Jahrhunderte alten Tradition.
Johann Peter Frank: System einer vollständigen medicinischen Polizey. 2. Bd., 3. verb. Auflage. Wien 1786
Johann Hildebrand: Nutzliche Underweisung für die Hebammen und Schwangeren Frawen [...]. Ingolstadt 1601
Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1802
Jean-Jacques Rousseau: Emile oder Über die Erziehung. Stuttgart 1963
Marion Maria Ruisinger: Auf Leben und Tod. Zur Geschichte der Geburtshilfe. Ingolstadt 2009, S. 51
Prof. Dr. Marion Ruisinger